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"Hunger, Wohlstand und Moral" von Peter Singer

 

Ein kleines, kompaktes Büchlein mit großen Inhalten. Schon der Titel „Hunger, Wohlstand und Moral“ verrät, dass es um zentrale Fragen geht, die die Menschheit seit langem bewegen. Ich mag Bücher, die einen nachhaltig zum Denken anregen. Und meines Erachtens besteht darin auch eines der wichtigsten Kriterien eines „guten“ Buches. Es sind schon ein paar Wochen vergangen, seitdem ich Singers Essays gelesen habe, aber die Grundthesen sind bei mir hängen geblieben und haben mich seitdem immer wieder nachdenken lassen.

 

 

Moral auf der Probe

 

Er macht es einem nicht leicht. So viel gleich vorneweg. In seinen Essays „Hunger, Wohlstand und Moral“, „Singers Antwort auf die Armut in der Welt“ und „Wie viel soll ein Milliardär spenden – und Sie?“ stellt der australische Philosoph unbequeme Fragen und gibt darauf noch unbequemere Antworten.

 

Darum geht es …

Eine zentrale Überlegung lautet wie folgt: Wenn ein Kind vor unseren Augen in einem Teich ertrinken würde, würden wir zögern, die notwendige Hilfe zu leisten, selbst wenn wir dafür ein Paar hochwertige Schuhe opfern müssten? Die meisten von uns würden die Frage wohl verneinen. Wie sieht es aber mit den notleidenden Kindern in Entwicklungsländern aus, von denen tagtäglich eine Vielzahl an Hunger oder an leicht zu behandelnden Krankheiten versterben? Sehen wir uns hier auch in der Pflicht, aktiv – z. B. durch Spenden – Menschenleben zu retten? Und wenn ja, wie weit gehen wir?

 

Wenn nicht jeder von uns, der halbwegs im Wohlstand lebt, das gibt, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, stellen wir unser Leben, unseren Luxus und unseren Konsum über das Leben eines Menschen, der diese Privilegien nicht genießt. So Singers These. Oder, um Singer ganz korrekt widerzugeben: „Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.“

 

… und, wenn man darüber hinausdenkt?

Ja, natürlich hat Singer recht. Womit rechtfertigen wir den Kauf einer neuen Handtasche oder den Familienurlaub, wenn wir den Betrag dafür genauso gut für Essen und Kleidung einer äthiopischen Familie ausgeben könnten?

 

Aber: was ist mit der Sprachreise für die eigene Tochter, für die man sich durch entsprechende Bildung eine möglichst gute berufliche Perspektive wünscht? Oder Sonderausgaben für die eigene Gesundheit, die über eine Standardversorgung hinausgehen? Natürlich fehlt hier Gerechtigkeit. Unbenommen. Aber sind deshalb alle, die sich diesen Komfort gönnen, schlechte Menschen? Was ist mit der Verkäuferin im Kaufhaus, die langfristig ihren Job verliert, wenn wir nicht ab und zu durch den Kauf eines Buchs oder einer neuen Hose ihr Gehalt mitfinanzieren? Wenn man Singers Überlegungen noch ein Stück weiterdenkt, wird man sich noch größeren Dilemmata gegenübersehen … 

 

Pflicht statt Wohltätigkeit

Interessant ist Singers Bemerkung, dass es in unserer heutigen Gesellschaft als „Wohltätigkeit“ gesehen wird, wenn jemand sehr großzügig spendet oder sich für Notleidende einsetzt, kaum jemand aber eine Pflicht daraus für sich ableitet. Hier wäre ein Umdenken in der Breite durchaus notwendig. Denn, wenn jeder, der kann – auch in begrenztem Maße – geben würde, könnten sicherlich einige humanitäre Katastrophen gemildert werden. Im Aufsatz „Wie viel soll ein Milliardär spenden – und Sie?“ stellt Singer eine Rechnung auf: Wieviel würde zusammenkommen, wenn 0,01 Prozent der Spitzenriege an US-Steuerzahlern ein Drittel ihres Jahreseinkommens abgeben würden, der Rest der 0,1 Prozent der Spitzenverdiener ein Viertel, die oberen 0,5 Prozent ein Fünftel und so weiter … Er errechnet eine Summe von mehreren Milliarden im dreistelligen Bereich – mit der Prämisse, dass alle „nur“ einen Anteil geben würden, der ihnen kaum weh täte. Für einen Normalverdiener wäre in der Folge der „gerechte Anteil“ auch überschaubar, wobei Singer wiederum in Frage stellt, ob dieser Anteil reiche, wenn man davon ausgeht, dass nicht jeder seinen gerechten Anteil auch leisten werde …

 

Erschreckende Aktualität

Dass Singers Texte erschreckend „zeitlos“ sind, zeigt die Tatsache, dass sie 2016 in Buchform erschienen, aber eigentlich schon zwischen 1972 (der Haupttext „Hunger, Wohlstand und Moral“) und 2006 veröffentlicht worden waren. Aktuell sind sie immer noch. Denn, würde jeder oder auch nur ein Großteil der Bevölkerung in den Industrienationen Singers Postulaten folgen, wäre die humanitäre Lage in den Entwicklungsländern wohl eine andere …

 

Lesen und handeln

Da bleibt nur: anzufangen … Zu handeln. Und jeden Tag ein bisschen Leben retten. Vielleicht wird das Kind, in das ich heute meine Zeit investiere, morgen mit mir zusammen an Wohltätigkeitsorganisationen spenden oder Fair-Trade-Produkte konsumieren. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Gerechtigkeit wird es nie geben. Singers Buch lesen, sich Gedanken machen und dann von Neuem entscheiden – das ist auf jeden Fall zu empfehlen.

 

Peter Singer: Hunger, Wohlstand und Moral. Mit einem Vorwort von Bill und Melinda Gates | Hoffmann und Campe | 16.05.2017 | 111 S. | Hardcover | ISBN: 978-3-455-00096-2

 

 

 

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