Der erste Monat des neuen Jahres ist fast vorbei. Auch in Juli Zehs Roman „Neujahr“ geht es um einen Jahreswechsel. Die Autorin nimmt einen mit auf eine atemlose Radtour ihres Protagonisten Henning, der seinem Alltag entfliehen will und schließlich bei sich selbst landet – bzw. dem, was jahrelang unausgesprochen in ihm geschlummert hat. Eine spannende und rundum lesenswerte Erzählung!
Neues Jahr, alte Pfade
Neues Jahr, neues Glück. Häufig ist ein Jahreswechsel mit Aufbruchstimmung verbunden, guten Vorsätzen, Plänen für einen Perspektivwechsel. Am Neujahrstag setzt sich Familienvater Henning in Juli Zehs Roman „Neujahr“ aufs Rad und beginnt, einen Berg auf Lanzarote zu bezwingen, wo er sich gerade mit seiner Familie zum Weihnachtsurlaub befindet. Statt einem Aufstieg ins Neue gerät seine zunehmend erschöpfende Tour mehr und mehr zu einer Flucht aus seinem Alltag, in dem das notwendige Funktionieren-Müssen schon lange nicht mehr klappt. Und endet schließlich in einer Reise in die Vergangenheit.
Henning ist Verlagsmitarbeiter, verheiratet und Vater der zweijährigen Bibbi und des vierjährigen Jonas. Mit seiner Frau Theresa teilt er sich die Familienarbeit auf, wobei sie die beruflich Erfolgreichere ist, so dass er sich bei der Hausarbeit stärker einbringt. Seit einiger Zeit wird Henning immer wieder von heftigen Panikattacken geplagt, deren Ursache er sich nicht erklären kann. Beim Urlaub auf Lanzarote will er Abstand gewinnen und unternimmt am Neujahrstag alleine eine Radtour, um zu entspannen und wieder einmal etwas für sich zu tun. Obwohl er glaubt, noch niemals zuvor auf der Insel gewesen zu sein, kommt ihm ein Grundstück im Bergdorf Femés, wo er völlig erschöpft eine Pause einlegt, sehr bekannt vor. Nach und nach wird aufgedeckt, welche Ereignisse aus Hennings Vergangenheit lange Zeit im Verborgenen destruktiv auf ihn eingewirkt haben.
Aus dem Leben gegriffen
Ohne unnötig Worte zu verlieren, führt Juli Zeh einen direkt mitten in die Handlung. Ihr gelingt es, Hennings Alltag, das, was ihn umtreibt, sehr verdichtet anfassbar zu machen. Und spricht damit Themen an, die in vielen Familien heute präsent sein dürften: so z. B. permanenter Zeitmangel, vor allem aber das Thema Familien- und Geschlechterrollen. Es geht um emanzipierte Väter, Kinder, die dann trotzdem nach Mama rufen – entgegen der „modernen Emanzipation“ (S. 30) – und Arbeit als „Verteidigungsstrategie gegen den Dauerzugriff der Kinder“ (S.11).
Atemloser, innerer Monolog
Als Henning bewusst wird, dass er ggf. doch nicht so glücklich ist, wie er die ganze Zeit von sich dachte, startet mit seiner Wut und zunehmend physischen Erschöpfung, mit der er die Steigung bezwingt, auch ein atemloser, innerer Monolog. Sein Leben gleicht einer Flucht und er scheint vor sich selbst davonzulaufen. Juli Zeh beschreibt Hennings Seelenzustand in einer lakonischen, schnörkellosen Sprache – in kurzen, nüchternen Sätzen.
Fazit
Mit „Neujahr“ ist Juli Zeh eine rundum fesselnde und gleichsam dichte Erzählung gelungen. Sie trifft den Zeitgeist und erzählt eine Geschichte – mitten aus dem Leben gegriffen. Wirklich lesenswert!
Juli Zeh: Neujahr. | Luchterhand Literaturverlag | 10. September 2018 | 123 S. | E-Book | ISBN: 978-3-641-22123-2
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