Im Rahmen der Heidelberger Literaturtage nahm ich letztes Jahr virtuell an der Lesung von Markus Ostermair teil, der sein literarisches Debüt „Der Sandler“ vorstellte. Anschließend war klar, dass ich das Buch auf jeden Fall lesen musste. Auch wenn der Roman ein paar Längen aufweist, ist dem Autor eine interessante Abhandlung über die sicher viel zu wenig thematisierte Problematik der Obdachlosigkeit gelungen.
Zwischen Füßewaschen und Gottesfrage
Karl Maurer, einst Mathematiklehrer, wird aus seinem Leben geworfen, nachdem ihm ein Kind vors Auto gelaufen ist. Er wird mit seiner vermeintlichen Schuld nicht fertig, beginnt zunächst zu trinken, wird schließlich von Frau und Tochter verlassen und landet auf Münchens Straßen. Der Autor konfrontiert seine LeserInnen mit einer Parallelwelt, in der nur die Stärksten überleben. Auch Karl trägt eine große Narbe im Gesicht sowie eine weitere am Hals. Beinahe hätte ihn der Angriff, der die noch nach Jahren sichtbaren Verletzungen verursacht hat, das Leben gekostet. Jetzt ist er der „Barometer-Karl“, der mit Hilfe seiner Narbe das Wetter vorhersagt. Eine nicht unwichtige Aufgabe, wenn man bedenkt, was Regen für Obdachlose bedeutet.
Trotz aller Einsamkeit entwickelt sich auch auf der Straße so etwas wie Freundschaft. So auch zwischen Karl und dem Zettelschreiber und Utopisten Lenz. Dieser nähert sich seinem Lebensende und hinterlässt Karl schließlich neben seinen Notizen den Schlüssel zu seiner Wohnung, in der er selbst nicht leben wollte. Dieser Schlüssel könnte ein Wendepunkt für Karl sein, eine Chance auf ein wieder geordnetes Leben. Doch so einfach ist es nicht. Er muss die neu gewonnene Sicherheit verteidigen und sich entscheiden, wie er sein weiteres Leben angehen will.
Differenzierte Figurenzeichnung
Ostermair gelingt es, genau hinzugucken und seine Figuren differenziert zu zeichnen. Auch bei seinem zunächst friedfertig wirkenden Protagonisten Karl sind Gut und Böse manchmal nicht allzu weit voneinander entfernt.
Neben Karl und Lenz gibt es weitere Figuren, deren Geschichten der Autor Stück für Stück erzählt: so die des Eisenkurt, ein aus der Haft Entlassener, der seinen Namen aufgrund seiner Reibeisenstimme trägt. Oder Mechthild, die sich stets den Kopf rasiert, wie um den emotionalen Ballast ihrer früher erlittenen Schicksalsschläge loszuwerden. Alle werden sie beim Vornamen genannt. So auch Karl. „Herr Maurer“ war vor der Zeit auf der Straße, die angeblich von „zwei Sorten von Menschen“ bewohnt wird: „Sammler und Verrückte“ (vgl. S. 47).
Kleine Alltagsdetails und große philosophische Fragen
Was den Roman ausmacht ist die geschickte Verknüpfung aus der Beschreibung kleiner Alltagsdetails und dem Aufgreifen philosophischer Fragen. So wird Karl genauso beim Füßewaschen begleitet wie beim Sinnieren über die Tätigkeit als Bettler: „Das Schlimmste, was man beim Handaufhalten tun kann, ist, tatsächlich die Hand aufzuhalten. Da muss was dazwischen. Ein Hut, ein Kaffeebecher oder ein Stück Pappe, das auf dem Boden liegt.“ (S. 123)
Und auch in Lenz‘ Zettelvermächtnis finden sich immer wieder Bezüge zu Gott sowie viele existenzielle Fragen und Thesen, wie etwa: „[Jeder Mensch] muß erkennen, daß Sprechen Handeln ist, daß Begriffe die Welt nicht nur beschreiben, sondern auch formen.“ (S. 309)
Fazit
Die philosophischen Exkurse aus Lenz‘ „Zettelwust“ lassen auch die Leser reflektieren, wirken aber dennoch zunehmend wie eine „Verzettelung“ des Autors. Ein paar Längen des Romans hätten sich sicherlich reduzieren lassen, die verschiedenen Nebenfiguren mit ihren Geschichten vermitteln eine gewisse Orientierungslosigkeit. Vielleicht ist es aber auch das, was Ostermair bewusst erreichen wollte – die aufgeräumten Leser haltlos machen. Was ihm auf jeden Fall gelungen ist und den Roman zu einer lesenswerten Lektüre macht, ist die Tatsache, dass er der Gruppe der Wohnungslosen – auf dem Buchcover durch eine schemenhafte gesichtslose Gestalt repräsentiert – ein Gesicht verleiht.
Markus Ostermair: Der Sandler. | Osburg Verlag | Dritte Auflage 2021 | 371 S. | Hardcover | ISBN: 978-3-95510-229-6
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