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"Der menschliche Makel" von Philip Roth

Schon länger stand Philip Roths Roman „Der menschliche Makel“, auch als „Sittenbild der amerikanischen Gesellschaft“ beschrieben, auf meiner Leseliste. Nun nahm ich mir die Zeit, den preisgekrönten Roman des mehrfach ausgezeichneten Autors zu lesen. Auch wenn das Werk für meinen Geschmack ein paar unnötige Längen aufweist, haben mich die bemerkenswerte Grundidee hinter dem Plot und die raffinierte Dramaturgie der Geschehnisse rund um den Protagonisten Professor Coleman Silk überzeugt.

 

Eine Entscheidung und lebenslängliche Konsequenzen

 

Schriftsteller Nathan Zuckerman trifft auf den alternden Coleman Silk, der aufgrund einer unbedachten Äußerung zu Unrecht des Rassismus bezichtigt wird und daraufhin alles verliert: seine herausragende Stellung als Professor für klassische Literatur sowie seine Frau, die unerwartet stirbt. Zuckerman soll in einem Buch über Silk dessen Reputation wiederherstellen. Zwei Jahre später wird Coleman Silk erneut Opfer: Durch seine Affäre mit der Mittdreißigerin Faunia Farley, einer Putzfrau aus der Unterschicht, rückt er erneut in den Fokus der jungen Professorin Delphine Roux, seiner Gegenspielerin, und ihrer noblen Kreise am neuenglischen Athena College, die Silk der Ausbeutung einer tief gefallenen Analphabetin bezichtigen.

 

Zuckerman enthüllt mehr und mehr Details aus Silks Biografie und stößt schließlich auf Silks Lebenslüge, die im absoluten Kontrast zu dem steht, wessen er beschuldigt wird. Klar ist aber auch, dass die Wahrheit hinsichtlich Silks Herkunft und Identität insbesondere das Vertrauen seiner Kinder wohl um einiges mehr erschüttern würde als es die öffentlichen Skandale bereits getan haben. Interessant ist hierbei auch die zeitliche Verortung der Geschichte: die Handlung spielt im Jahr 1998 – zur Zeit der drohenden Amtsenthebung des damaligen Präsidenten Bill Clinton, die immer wieder thematisiert wird.

 

Figuren mit Makel

Der Titel des Romans beschreibt auch, was die Protagonisten ausmacht. Niemand ist vollkommen – gerade durch ihren jeweiligen Makel zeigt sich die Menschlichkeit der Figuren.

Coleman Silk hat – bis zu den Rassismus-Vorwürfen, die das Aus seiner Universitätslaufbahn bedeuten – eine beachtliche Karriere hingelegt. Mit seiner Frau und vier Kindern kann er auch im Privaten zufrieden sein. Dennoch holt ihn nach und nach seine wegweisende Entscheidung von vor fünfzig Jahren ein, auf die sein Leben gebaut ist, das nun nach und nach zerfällt. Warum er sein Leben auf einer Lüge errichtet hat, wird Stück für Stück enthüllt. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Gesellschaft und der Blick von außen: „Das Ziel war, sein Schicksal nicht von den dummen, haßerfüllten Absichten einer feindseligen Welt bestimmen zu lassen, sondern, soweit menschenmöglich, durch seinen eigenen Willen.“ (S. 127)

Auch Faunia spielt mit einem Bild, das sich die Außenwelt von ihr gemacht hat und nimmt eine Rolle an, die ihr vorteilhaft erscheint.

Nicht zuletzt sind auch Faunias Exmann Les Farley, ein psychisch kranker Vietnamveteran, der Faunia und Coleman verfolgt, sowie Colemans Widersacherin Delphine Roux, die in Colemans Affäre mit Faunia einen Racheakt gegen sich selbst sieht, gezeichnet von gesellschaftlicher Einengung.

 

Zauber des Abwesenden

„Das, was einen bezaubert, ist etwas, das nicht da ist, und das ist es auch, was mich die ganze Zeit zu ihm hingezogen hat, dieses geheimnisvolle Etwas, das er als etwas verbirgt, was nur ihm und niemandem sonst gehört.“ (S. 215) So beschreibt der Ich-Erzähler den Protagonisten Coleman Silk. Er macht es sich zur Aufgabe, das Geheimnis des Professors angemessen zu enthüllen (vgl. S. 52f.) und Colemans „Katastrophe zu [s]einem Thema“ (S. 52).

Roth gelingt es – gerade über die Figur des Schriftstellers Zuckerman, der Colemans Leben mit allen seinen Facetten und blinden Flecken beleuchtet – ein sehr differenziertes Bild seines Protagonisten zu zeichnen.

Seine Vorstellung von Freiheit kann als Triebfeder von Colemans Handeln gesehen werden. Hierfür nimmt er sogar einen metaphorischen Muttermord in Kauf (vgl. S. 144). Der Mutter, die ihn über alles geliebt hat, aber feststellt: „Du denkst wie ein Gefangener (…) wie ein Sklave.“ (S. 145)

Einmal diesen Weg gewählt, gründet Coleman auch seine eigene Familie auf dem Fundament einer Lüge und beraubt seine Kinder ihrer Wurzeln. Zauber und Grausamkeit liegen also eng beieinander. Menschsein und von einem Makel behaftet eben auch.

 

Fazit

Philip Roth hat es geschafft, eine spannende Grundidee geschickt auszuarbeiten sowie psychologisch wohldurchdachte Figuren und tiefgründige Charaktere zu konstruieren. Die häufig zeilenlangen Sätze und langen Monologe laden zum Innehalten und Erneut-Lesen ein, wirken gleichzeitig aber auch zuweilen langatmig. Nichtsdestotrotz eine Geschichte, die berührt und einen nachdenken lässt. Ein Roman, der nachhält.

 

 

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. | Carl Hanser Verlag | 2002/2015 | 354 S. | E-Book | ISBN: 978-3-44625122-9

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