Was, wenn man zwanzig Jahre in die eigene Vergangenheit zurückgehen und eigene Handlungen revidieren könnte? Was würde man sehen, wenn man sich selbst zwanzig Jahre in der Zukunft sieht? Um diese und ähnliche Fragen geht es in „Das andere Tal“. Ein besonderer Roman mit philosophischer Tiefe …
Zeitenreise
Odile Ozanne lebt in einem besonderen Tal. Geht man nach Osten oder Westen, gelangt man an denselben Ort – allerdings findet man Personen, Gebäude, Straßen um zwanzig Jahre zeitversetzt wieder. Nur in Trauerfällen dürfen die Grenzen passiert werden und auch nur, nachdem der Trauernde eine erfolgreiche Petition beim Conseil, gestellt hat, das für Ordnung und Sicherheit sorgt. Eines Tages erkennt Odile zwei Besucher aus der Zukunft: die Eltern ihres Freundes Edme. Ab diesem Zeitpunkt weiß Odile, dass Edme bald sterben wird. Müssen sich Edme und Odile diesem Schicksal beugen oder gibt es einen Ausweg, diesem zu entrinnen?
Die sechzehnjährige Odile ist ein stilles Mädchen. Lange ist sie Außenseiterin, bis sie sich mit Edme anfreundet und durch ihn auch andere Freunde gewinnt. Zum Ende der Schulzeit bewirbt sie sich für eine Ausbildung im Conseil und unterzieht sich einem strengen Auswahlverfahren, das nur wenige bestehen. Genauso streng, wie künftige Mitarbeitende ausgewählt werden, geht das Conseil auch mit seinen Antragstellern um. Eine Person in ein anderes Tal reisen zu lassen, birgt immer ein großes Risiko. Auf keinen Fall darf in die Vergangenheit oder Zukunft eingegriffen werden.
Philosophische Fragen
Mit dem Setting der Täler hat Scott Alexander Howard in seinem Debütroman „Das andere Tal“ eine spannende Grundlage für verschiedenste Gedankenexperimente und philosophische Fragen geschaffen. Ebenso wie die Protagonistin Odile kommt auch der ganze Text mit ruhigen, zuweilen auch melancholischen Tönen, dafür aber komplexen Überlegungen daher. Für ihre Bewerbung beim Conseil muss Odile sich mit dieser Frage auseinandersetzen: „Wenn du die Erlaubnis hättest, das Tal zu verlassen, in welche Richtung würdest du gehen?“ (S. 11). Eine Fangfrage, wie Odiles Mutter sie warnt, da es die Hauptaufgabe des Conseils sei, anderen zu sagen, dass sie das Land nicht verlassen dürfen.
Poetische Sprache
Bemerkenswert ist die poetische und metaphorische Sprache: „Im Winter hatte die Nacht eine andere Persönlichkeit, ein endloses schmerzerfülltes Stöhnen, und in den besonders einsamen Abschnitten des Patrouillengangs, wo die Flutlichter am schwächsten waren, sang ich in meinen Schal, um mir die unheimlichen Klagelaute vom Leib zu halten.“ (S. 280)
Oder: „Als mein Kopf den Boden berührte, floss mein Bewusstsein in die Erde wie Wasser.“ (S. 422)
Fazit
„Die andere Seite“ ist eine Metapher, die sich durch den gesamten Roman zieht. Odile scheint nie so richtig zu Hause zu sein im Tal, in dem sie sich befindet – immer wird „das Andere“ mitgedacht. Und auch unter ihren Mitmenschen nimmt sie oft diese andere Perspektive ein: „Die letzten Schüler trafen ein und gesellten sich zu der Gruppe, bis schließlich elf Leute quasselnd auf der einen Seite des Fensters standen und ich auf der anderen.“ (S. 60) Durch diese Außenseiter- bzw. Beobachterrolle ist sie aber auch prädestiniert für eine Reise durch die Zeiten und auch wenn die Konstruktion der verschiedenen Täler zuweilen komplex erscheint, folgt man ihr und ihren Gedankengängen gerne durch den Roman. Eine originelle Geschichte, die bemerkenswert erzählt wird, macht dieses Buch zu einer besonderen Lektüre.
Vielen Dank an den Diogenes Verlag und Lovelybooks für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
Scott Alexander Howard: Das andere Tal. | Diogenes Verlag | 2024 | 464 S. | Gebundenes Buch | ISBN: 978-3-257-07282-2
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